Ukraine: Überholt die Realität die deutschen Illusionen, Rußland besiegen zu können?

Offiziell und öffentlich beteuern die Regierungen der NATO-Staaten weiter ständig: „Die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen.“ Aber es gibt Anzeichen dafür, daß ein gewisser Rückzug von dieser Illusion begonnen hat. So wurde das für den 12.10. in Ramstein geplante Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe aufgeschoben, als US-Präsident Biden seine Deutschlandreise plötzlich um eine Woche verschob (vgl. SAS 41/24).

Einigen Insidern zufolge läßt das darauf schließen, daß die Ukraine-Frage für die Amerikaner zu heiß geworden ist, insbesondere in den letzten Wochen des Wahlkampfs, und sie Europa damit allein lassen wollen. Ein Grund für Bidens Planänderung könnte auch Moskaus Entscheidung sein, als Reaktion auf die Pläne, Kiew Angriffe mit westlichen Waffen tief in russisches Gebiet zu erlauben, die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken. Zudem ist die Verteidigung Israels für die Neokonservativen in Amerika derzeit zur Priorität geworden, um ihre Interessen im Nahen Osten zu wahren.

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat zweifellos bemerkt, daß der Wind sich drehen könnte, da sein Ersuchen um die sofortige Lieferung von Langstreckenraketen während seiner Reise nach Washington und auch seiner anschließenden Europareise u.a. nach London, Paris, Rom und Berlin abgelehnt wurde. Zur Stimmung in Berlin berichtete die große Boulevardzeitung Bild am 14.10., ein internes Memorandum des Verteidigungsministeriums komme zu dem Schluß, daß die Ukraine kurzfristig einfach nicht in der Lage ist, von Rußland eingenommenes Gebiet zurückzuerobern. Dies sei – so der von Bild zitierte Experte – der Grund, warum die Regierung keine weiteren schweren Waffen mehr an Kiew liefere, etwa Kampfpanzer, Schützenpanzer, Haubitzen und andere Waffen, die für eine Offensive benötigt werden.

Die realistischere Einschätzung der Chancen der Ukraine auf dem Schlachtfeld bringt jedoch (zumindest bisher) keine Anzeichen dafür mit sich, daß eine diplomatische Lösung angestrebt wird. So entsteht eine gefährliche Grauzone, in der die Rußlandhasser in der NATO ihre Provokationen fortsetzen können. Ein solcher Fall ist der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Er kritisierte die Absage des Treffens in Ramstein und sagte in der ARD-Talkshow von Caren Miosga: „Warum machen sich die Europäer kleiner, als sie sind?“, sie müßten unabhängiger von den USA werden. Offensichtlich würden Leute wie er die „Europäisierung“ des Ukraine-Krieges unterstützen.

In einem Leitartikel der Londoner Financial Times (7.10.) heißt es bedauernd: „Die Stimmung in Washington und einigen westlichen Hauptstädten wandelt sich von der Entschlossenheit, daß der Krieg nur mit einer Vertreibung der russischen Armee aus der Ukraine enden kann, zu der widerstrebenden Erkenntnis, daß eine Verhandlungslösung, die den Großteil des Landes intakt läßt, die beste Hoffnung sein könnte.“